
- Datum
- 19.06.2012
- Ort
- Vortragssaal Reinhold-Frank-Str.81 / Vordergebäude
Das Totem als Sphinx. Anmerkungen zu dem vergessenen Surrealisten Wolfgang Paalen
Dr. Andreas Neufert, Berlin
Wolfgang Paalens Sichtweisen hoben ihn schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aus dem Kreis seiner Zeitgenossen ab und machen ihn heute noch zu einem Spezialfall der Moderne und ihrer Geschichte, die sich nicht sonderlich leicht tut, für ihn einen Platz zu finden. Andreas Neufert, autorisierter Biograf Paalens, nimmt dessen nicht publizierte Tagebuchnotizen, die während seiner Reise durch Britisch-Kolumbien 1939 entstanden, zum Anlass, in die besondere Gedanken-, Bilder- und Wirkungswelt dieses wiederzuentdeckenden Außenseiters der Moderne einzuführen. Am Dienstag, 19. Juli, 19 Uhr spricht er darüber im Vortragssaal der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe.
Wie alle Surrealisten rebellierte er mit allem, was er war, gegen ein Universum, das so ist, wie es scheint. Der Tisch, der Baum, der Boden unter unseren Füßen, in Wahrheit wild herumwirbelnde Teilchenansammlungen, die jeweils nach ihrer eigenen Uhr leben und in die man, mikrophysisch gesehen, meterweit hineingreifen kann. Heimgesucht von den Fumage-Bildern, die der in Wien geborene Paalen seit 1937 in der Gruppe um André Breton produzierte, kann es passieren, dass man nächtelang von einer Welt aus Pudding träumt, faserige Gestalten vor seinem Augen in große Höhen schießen sieht, die Erde wie Eis zerbrechen.
1949 schrieb Paalen einen Essay mit dem seltsamen Titel Dynaton, in dem er laut über Raum und Zeit nachdachte, über die Veränderungen unseres Bildes vom Kosmos durch die neue Physik und darüber, was es bedeutete, als Künstler bewusst aus einem Möglichkeitsuniversum zu schöpfen, und nicht mehr nur aus den drei Dimensionen, in denen sich die Menschen offenbar schon damals nicht mehr zurechtfanden. Für ihn war es nur ein kleiner Schritt von der Welt des Mysteriums zur Welt der Wissenschaft, und so sprach er mit der Leichtigkeit des Wissenden von dem polyphonen Chaos der Welt, der zeitlosen Wellenfunktion Schrödingers als Verbindung des Universums mit den subatomaren Teilchen, die unablässig miteinander sprechende Welt des Totemismus, den Menschen, die glaubten, ihre Ordnungen in Vorher und Nachher, in Vergangenheit und Zukunft zeigten die Welt so, wie sie wirklich sei. Er gab dem Künstler die moralische Vision, den Irrtum vom Fluss der Zeit revidieren zu können. Zeigen zu können, wie man aus der Gleichzeitigkeit schöpfte, als seien Bilder im Dunkel des Jetzt schon da, wie in einer gigantischen Filmrolle und die Künstler seien umgekehrte Projektoren, die ihnen die Dimensionen entziehen mussten, die sie normalerweise brauchten um von Menschen gesehen zu werden: Raum und Zeit, einen Ablauf mit Anfang und Ende.
Paalen, der Sohn eines mondänen österreichisch-jüdischen Erfinders und Patent-Millionärs, besuchte nach einem Jahr in Frankreich (Paris und Cassis) 1927/28 die Kunstschule von Hans Hofmann in München und Saint Tropez. Danach schloss er sich 1933 der Gruppe Abstraction-Creation an und wurde 1935 Mitglied der Pariser Surrealisten. Mit seinen Fumagen und totemistischen Landschaften gelang ihm 1937 der Durchbruch in Paris. 1939 reiste er mit seiner Frau Alice Rahon und seiner Freundin Eva Sulzer in einer menage à trois durch Britisch Kolumbien und ließ sich auf Einladung Frida Kahlos in Mexiko nieder, wo er zwischen 1941 und 1945 das Kunstmagazin DYN herausgab. 1949 arbeitete er in San Francisco mit Gordon Onslow Ford und Lee Mullican in der Dynaton Gruppe, bevor er 1952 nach Paris, und 1954 wieder nach Mexiko ging. Er starb 1959 durch Suizid.